6:50 Uhr aufstehen
7:35 Uhr Abmarsch

8:50 Uhr 5,4 km gelaufen. Heute sind nur zwei unterwegs: der Wind und ich. Es sind kalte orkanartige Böen. Auf einer Brücke habe ich versucht ein Video zu drehen. Immer wieder wurde ich zur Seite abgedrängt. Dieser kalte Wind erinnert mich mehr an die Überquerung der Pyrenäen, als hier im warmen Deutschland Ende Mai. Beim laufen sind die Hände meist in den Taschen. Die Ratte in den Ohren hilft ein wenig (eigentlich hatte ich Watte gesagt). Ich hätte doch eine leichte Mütze und Handschuhe mitnehmen sollen
Ich freue mich jedes Mal, wenn ich Seitenwind habe. Denn dann hat die Krempe meines Hotels ein eindeutigen Vorteil. Entweder sieht es aus wie bei Napoleon oder ich glaube sie einmal herunter und der Wind hält sie dann beständig über meinem Ohr. Das schützt wunderbar gegen Seitenwind.

9:30 Uhr und 7,7 km gelaufen. Leider gibt es ja keine gute und windgeschützte Möglichkeit sich mal hinzusetzen. Also lauf ich einfach mal weiter. Gerne würde ich irgendwo einkehren. Am besten bei einem Glühwein oder heißem Tee, um meine Hände zu erwärmen. Oder vielleicht einen Kachelofen wäre auch nicht schlecht.
Auch im weiteren Verlauf gibt es einfach nichts: keine Ortschaft, kein Imbiss, kein Einkaufsladen – nur Weg, Straße und kleinere Häuser Ansammlungen.
11:11 Uhr 13 km gelaufen. Meine Beinmuskeln schmerzen. Man kann sich ja auch nirgendwo ausruhen. Dort im Wald gibt es eine Jagdhütte. Ich mache einen kleinen Abstecher dorthin mit 2 × 350 m, um hier 30 Minuten ausruhen zu können. Und nach dem ausruhen und essen wieder schön die Watte in die Ohren stecken und den Hut aufsetzen, damit meine Frisur nicht wuschelig wird.
12:30 Uhr 17 km gelaufen. Noch immer tote Hose hier. Keine Bar und auch kein Imbiss. Ich hätte jetzt total Bock auf eine leckere Bockwurst mit viel Senf oder ein Fleischkäseweck. Und dazu ein kühles Blondes.
13:10 Uhr noch 5 km Und 20 gelaufen. Kurz vor dem Bahnhof gibt es ein großes Einkaufszentrum. Da werde ich mich für heute Abend und morgen (Sonntag) eindecken, falls ich wieder unterwegs nichts finde. Denn einige Bäcker im Ort bei meiner Herberge haben sonntags geschlossen. Auch werde ich mir für morgen früh gescheite weiße Brötchen holen. In der Herberge gibt es nur solche Ökovogelfutter Brötchen. Vielleicht ist dort auch ein kleiner Imbiss, um meine Gelüste zu stellen, um eine Bockwurst zu bekommen.
Das gibt mir wieder neue Kraft zum weiter marschieren. Der Weg ist das Ziel.


Hier in Panitzsch bin ich mal wieder angesprochen worden, weil ich als Pilger erkannt wurde. Ein „Kollege von der Zunft“, wie er mich nannte,kam vor 3 Tagen gerade von Spanien vom Camino. Er kam irgendwie von Süd Spanien über Portugal. Es war ein sehr interessantes Gespräch. Wir tauschen uns ein wenig aus und wünschen uns buen Camino.
Im Pilgerbüro in Spanien sind jetzt wohl voll modern geworden, hat er berichtet. Es gibt eine Webseite da kann man seinen Startpunkt angeben und seine Tour, man bekommt dann ein Barcode und mit diesen Einlass ins Gebäude. Dann kommt man eine Nummer und weiß somit wann man ungefähr dran ist. In der Zwischenzeit kann man etwas anderes tun und muss nicht so lange anstehen, wie damals 2019.

14:40 Uhr Ende der heutigen Wanderung. Am Einkaufszentrum angekommen. Ich habe mir für morgen früh drei Brötchen gekauft. Und dann geht’s zum Bahnhof zurück in die Herberge. Ich habe sogar eine Bockwurst bekommen.

15:23 Den Zug habe ich gerade noch 3 Minuten vor der pünktlichen Abfahrt erreicht. Denn wenn man selbst knapp dran, dann fahren sie immer pünktlich.
So, für heute reicht es mir. Aber ausruhen geht noch nicht. Zuerst duschen und mal wieder Wäsche waschen, damit sie bis morgen trocken ist. Denn heute muss ich alles einpacken, denn ich übernachte morgen zweimal in einer Herberge in Leipzig.
Lieber Fred
Morgen wirst du also in Leipzig ankommen. Damit wirst du nicht ”nur” den grössten Teil deiner diesjährigen ”Camino-Tranche” hinter dir haben; viel wichtiger: Du wirst morgen als Pilger in eine bedeutungsvolle deutsche Kulturstadt einziehen!
Wenn ich ”Leipzig” höre, läuten bei mir viele Glöcklein (bitte nicht ”Glöckli” – wenn schon schweizerdeutsch, dann ”Glöggli”). Als Jugendlicher kaufte ich mir mit meinem Ersparten die ersten Stereo-Schallplatten, nachdem ich mir selber einen Stereoverstärker (damals noch mit Röhren) gebaut hatte. Das Leipziger Gewandhausorchester ”beförderte” mich und mein Zimmer in dieser Zeit immer und immer wieder in höhere Sphären. Es war einzigartig! Ich hatte sogar einen Onkel, der regelmässig zu mir auf Besuch kam, um sich – auf meinem Bett liegend – diese Musik zu Gemüte zu führen …
Wenn ich ”Leipzig” höre, denke ich sofort an Felix Mendelssohn Bartholdy. Er hat vor bald 200 Jahren in dieser Stadt Grosses geleistet. Als Leiter der Gewandhauskonzerte hat er unter anderem dafür gesorgt, dass damals vergessen gegangene musikalische Meisterwerke wieder zu ihrem ”Recht” kamen und quasi ”wiederendeckt” wurden!
Wären wir drei (Günther, du und ich) morgen unterwegs nach Leipzig, ich müsste wohl in der Stadt für einige Augenblicke (bei Kaffee und Kuchen) um eure volle Aufmerksamkeit bitten. Ich würde versuchen, euch zu zeigen, dass auch das Innehalten und Reflektieren zum Camino gehören, insbesondere wenn man nach Leipzig kommt!
Ganz in diesem Sinne habe ich dir, Fred, via deine E-Mail-Adresse ein kurzes musikalisches Stück von Felix Mendelssohn angehängt. Es handelt sich dabei um die Ouvertüre zum Oratorium ”Paulus”. Alles passt ausgezeichnet zu deinem momentanen Lebensabschnitt:
Was du in den letzten Tagen gemacht hast, ist ja nichts anderes als die ”Ouvertüre” zu etwas Grösserem …
Der Apostel Paulus hat während seines Lebens und auf seinen Reisen wie du, Fred, unzählige Kilometer zurückgelegt und auf seine Art gewirkt …
In der Ouvertüre, die ruhig und eher gemächlich anfängt, ertönt gegen den Schluss hin wuchtig die Orgel mit einer ersten ”Einstimmung” zum Choral ”Wachet auf …”
Das ist es doch gerade, Fred, was du brauchst: alle Morgen ein besinnlicher Weckruf – oder doch mindestens morgen Sonntag im Aufbruch nach Leipzig!
Herzlich grüsst dich aus der Schweiz
Hans
P.S.
Die beigefügte Musik wird vom Leipziger Gewandhausorchester gespielt. Wenn das kein gutes Omen ist …
Mendelssohn pflegte eine ausgesprochen freundliche und liebevolle Beziehung zur Schweiz.